Der Bundesverband Glasindustrie e.V. (BV Glas) hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart in ihrer Studie „Glas 2045 – Dekarbonisierung der Glasindustrie“[1] drei Transformationspfade gezeichnet und verglichen, die die energieintensive Glasindustrie bei den direkten Emissionen bis 2045 zur Klimaneutralität führen können. Der Schlüssel liegt langfristig im Ersetzen des Erdgases in der Schmelze, das derzeit 77 Prozent im End-Energiemix ausmacht – durch Strom und grüne Gase.
Die größte Erfolgswahrscheinlichkeit erkennen Verband und Institut in einer schrittweisen Umstellung auf hybride Schmelztechnologien. Die glasstec, die beim Thema Dekarbonisierung im Oktober einen wichtigen Schwerpunkt setzt, hat die Studie daraufhin beleuchtet, wie der Weg zur CO2-Neutralität in der Glasbranche und im Speziellen, in der Behälterglasindustrie, gelingen könnte.
[1] Leisin, Matthias; Radgen, Peter: Glas 2045 - Dekarbonisierung der Glasindustrie. IER, Universität Stuttgart, Studie im Auftrag des Bundesverband Glasindustrie e.V., Stuttgart, 2022
Bei der Glasherstellung werden in Deutschland jährlich rund vier Millionen Tonnen CO2 emittiert, vor allem im erdgasbasierten Befeuern der Schmelzwannen, aber auch durch prozessbedingte, chemische Reaktionen der eingesetzten Rohstoffe. Für Letztere gibt es wenig Alternativen, und die Abscheidung und Einlagerung von CO2 über das Carbon Capture and Storage-Verfahren (CCS/CCU) ist bei den vergleichsweise geringen CO2-Konzentrationen im Abgas der Glasindustrie schwierig umzusetzen. Hier bestehen weiterer Forschungsbedarf und die Entwicklung einer CO2-Infrastruktur. Der größte Hebel zur Dekarbonisierung besteht im Wechsel der Energieträger für die Prozesswärme – weg vom Erdgas, hin zu Strom und grünen Gasen (Wasserstoff, Biogas, synthetisches Methan). Die technologische Umstellung der langjährig auf gasförmige Brennstoffe ausgelegten Glasschmelzen ist eine große Herausforderung, zumal weitere Prozesse, wie die Nutzung der Abwärme, in den meisten Produktionen seit langem verbunden sind. Diese Aufgabe kann bis 2045 nur gelingen, wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie erhalten bleibt, indem die Politik die Transformation weiterhin als existenzielle, gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreift und vorantreibt – vieles hängt an der erfolgreichen, EU-weiten Umstellung von fossilen Energieträgern auf regenerative Energie und grüne Gase.
Für eine präzise Einschätzung des Status quo analysierte die Studie die in Deutschland produzierenden Werke für Behälterglas, Flachglas und Spezialgläser mit allen Variablen, wie Wannenanzahl, Wannenart, Produktionsmengen und Energieverbrauch und untersuchte drei mögliche Transformationspfade, je nach Eignung und Verfügbarkeit der Technologie für das zu fertigende Glasprodukt, der Verfügbarkeit der Infrastruktur für den Einsatz emissionsfreier Energieträger und der bereits kommunizierten oder geplanten Dekarbonisierungsmaßnahmen der Hersteller. Im Szenario „BAU“ werden keine wesentlichen Veränderungen gegenüber dem aktuellen Stand der Technik in den einzelnen Glaswerken bis 2045 angenommen – als Benchmark für die anschließende Analyse der alternativen Transformationspfade „Elektrifizierung“, „Wasserstoff“ und „Hybridszenario“, die hinsichtlich Energieverbrauch, CO2-Emissionen und der voraussichtlichen Kosten simuliert wurden.
Die heute im Betrieb befindlichen Technologien werden in den drei Transformationspfaden bis 2045 vollständig durch Hybridwannen, Super-Hybridwannen und vollelektrische Schmelzwannen ersetzt, je nach potenzieller Eignung. Erdgas wird in den erneuerbaren Konzepten bis 2045 nach und nach durch grünen Wasserstoff ersetzt, sodass die brennstoffbedingten Emissionen auf null sinken. Der Strombedarf steigt je nach Szenario auf 15,5 – 31,3 PJ und der Wasserstoffbedarf auf 2,8 – 28,4 PJ pro Jahr. Zur vollständigen Umrüstung auf Hybrid- und vollelektrische Schmelzwannen und die Anpassung der Energieinfrastrukturen sind Investitionen in Höhe von 3,2 – 5,6 Milliarden Euro bis 2045 nötig. Die untere Grenze von 3,2 Milliarden Euro gibt den Investitionsbedarf im Wasserstoff-Szenario wieder, denn der Aufwand der Umstellung auf den neuen Brennstoff ist vergleichsweise gering. Ob grüner Wasserstoff allerdings künftig breit verfügbar sein wird, erscheint schwer abschätzbar. Und letztlich verbleiben 2045 prozessbedingte CO2-Emissionen in Höhe von 780.000 Tonnen pro Jahr, weil es bei den eingesetzten Rohstoffen für die Glasherstellung bislang keine Alternativen gibt. Um diese zu vermeiden, wären bis 2045 Infrastrukturen für den Transport und die Speicherung von CO2 erforderlich.
Transformation der Behälterglasindustrie:
Energie, Emissionen, Kosten
Betrachtet man die Studienergebnisse, dürfte der hybride Transformationspfad der für die gesamte Glasindustrie erfolgversprechendste Weg sein, denn er ist hinsichtlich der einzusetzenden Technologielösungen flexibler angelegt. Die Behälterglasindustrie stellt mit jährlich 4,1 Millionen Tonnen den größten Teil der deutschlandweit 7,4 Millionen Tonnen Glas her. Hier werden dem hybriden Transformationspfad folgend ab Mitte dieses Jahrzehnts die ersten Hybridwannen mit Strom und Erdgas eingesetzt, zum Ende des Jahrzehnts folgen die ersten vollelektrischen Schmelzen zur Herstellung von Glasbehältern für Getränke und Nahrungsmittel. Ab 2030 folgen die ersten rein wasserstoffbetriebenen Wannen, Super-Hybridwannen und vollelektrische Wannen. Ab 2040 beginnt die Umstellung der Super-Hybridwannen von Erdgas auf Wasserstoff – wenn bis zu diesem Zeitpunkt ein flächendeckendes grünes Wasserstoffnetz in Deutschland aufgebaut wurde. Bis 2045 werden auch die letzten konventionellen Schmelzen Super-Hybridwannen mit Wasserstoff und vollelektrischen Schmelzen weichen.
Energieverbrauch: Die Umstellung führt zu einer deutlichen Steigerung der Stromnachfrage, die laut Studie bis 2045 auf 17,3 PJ (4.805 GWh) wächst. Zusätzlich wird Wasserstoff in einer Größenordnung von 2,3 PJ pro Jahr benötigt. Der fossile Energieträger Erdgas wird bis 2045 vollständig substituiert.
CO2-Emissionen: Durch den Einsatz vollelektrischer und wasserstoffbetriebener Hybridwannen sinken die direkten CO2-Emissionen bis 2045 auf null. Weiterhin führt die Dekarbonisierung im gesamten Stromsektor zur Einsparung direkter CO2-Emissionen. Neben einem schon jetzt hohen Anteil an Altglasscherben werden zur Behälterglasherstellung künftig auch Karbonate eingesetzt. Die prozessbedingten Emissionen sinken bis 2045 auf einen Wert von jährlich 328.000 Tonnen CO2, also um insgesamt 83 Prozent.
Produktionskosten: Die Betriebskosten zur Herstellung von Behälterglas werden durch den Einsatz der neuen Energieträger steigen. Der Anteil der Energiekosten erhöht sich um circa 110 Prozent, die spezifischen CO2-Kosten wachsen um 19 Prozent. Insgesamt werden die Produktionskosten um circa 16 Prozent auf voraussichtlich 526 EUR pro Tonne Behälterglas steigen.
Das Thema „Dekarbonisierung“ ist eines der wichtigsten Themen der glasstec, das auch auf dem Architekturforum der Messe im Oktober diskutiert werden wird.
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